Spanien

Der Jakobsweg droht am eigenen Erfolg zugrunde zu gehen

Seit Hape Kerkeling den Jakobsweg in Deutschland populär gemacht hat, pilgern immer mehr Deutsche nach Santiago, Dort herrschen mitunter Zustände wie am Ballermann. Das sorgt für Ärger.  

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Gedränge vor dem Gotteshaus – immer mehr Menschen pilgern nach Santiago, die Religion tritt in den Hintergrund. Foto: Emilio Rappold (dpa)
Mit Karacho rattern fünf junge Pilger auf Rädern die Stufen zum Obradoiro-Platz vor der Kathedrale von Santiago de Compostela hinunter – und jagen zwei bedächtig schlendernden Geistlichen einen Riesenschreck ein. Nur wenige Meter weiter feiern zwei Dutzend Mexikaner ihre Ankunft mit Tänzchen und Gesängen. "Llegamos, llegamos!" – "Wir sind da, wir sind da!", schreien sie.

Am Ziel des Jakobsweges herrscht dieses Jahr Hochkonjunktur – sogar jetzt noch im Herbst. Mehr als 430 000 Wallfahrer erhielten 2022 bereits die Ankunftsurkunde, wie die Pilger-Behörde Oficina del Peregrino informiert. Das sind gut 20 Prozent mehr als im gesamten bisherigen Rekordjahr 2019. Dabei holen sich viele die Urkunde gar nicht ab – und werden nicht gezählt.

Im Wallfahrtsort, der in Deutschland durch Hape Kerkelings Buch "Ich bin dann mal weg" populär wurde, klingen die Kassen lauter denn je. Die Betreiber der inzwischen sehr teuren Hotels, Privatunterkünfte, von Souvenirläden und Gaststätten reiben sich die Hände. Aber nicht alle freuen sich. Denn anders als in Lourdes oder Fátima stehen Religiosität und Andacht hier längst nicht mehr im Mittelpunkt der Besucherströme. Vermüllung, Lärm und Vandalismus nehmen immer mehr zu.

Einheimische sind über das Benehmen vieler Wallfahrer verärgert

Viele Bewohner der von der Unesco geschützten Altstadt sind wütend oder verzweifelt, wie man immer wieder hört, wenn man das Thema im Zentrum von Santiago auch nur ansatzweise anspricht.

"Es ist eine Tendenz, die schon vor einigen Jahren begann, aber dieses Jahr war es besonders schlimm, im Sommer war es zeitweilig schlicht unerträglich", erzählt die Bewohnerin Beatriz. Sie habe im Homeoffice wegen des Lärms von draußen größte Schwierigkeiten gehabt, sich zu konzentrieren. "Wenn Du mit 40 Wallfahrern um sieben Uhr morgens in die Stadt kommst, musst du verstehen, dass dort Menschen wohnen, arbeiten, studieren, schlafen. Du kannst doch nicht laut herumgrölen. Es geht um Respekt", sagt sie.

Im Zentrum der Hauptstadt Galiciens ist es tagsüber schon sehr laut. Abends dann noch um einiges mehr. Vor allem in der Rua de Franco. Die Bars und Restaurants an der 400 Meter langen Partymeile unweit der Kathedrale sind an diesem Herbstabend noch um Mitternacht alle voll. Vor den Lokalen bilden sich zum Teil sehr lange Schlangen. "Noch ’ne Flasche, Leute?", ruft ein Italiener an einem langen Tisch, und die Gruppe antwortet im Chor: "Siiii, un’ altra bottigliaaaa!" "Hier ist es fast so geil wie am Ballermann!", ruft der 21-jährige Hendrik aus Hamburg. "Nur der Strand und das Meer fehlen." Er muss das aus nächster Nähe gleich dreimal fast schreiend wiederholen, so laut ist es. Der schlaksige junge Mann hat die Eltern auf den gut 500 Kilometern zwischen Miranda de Ebro und Santiago zunächst nur widerwillig begleitet – ist aber nun "total überrascht und happy".

Wegen des Airbnb-Booms herrscht dramatischer Wohnungsmangel

Santiago de Compostela ist nicht nur ein Schmuckstück religiöser Baukunst und beliebter Wallfahrtsort, weil der Überlieferung nach über dem Grab des Heiligen Jakobus die Kathedrale gebaut wurde. Es ist auch eine alte Universitätsstadt, die seit jeher junge Leute aus dem In- und Ausland beherbergt. Aber auch die Mehrheit der Studenten, von denen einige bekanntlich nicht ungern feiern, schimpfen, wenn man sie nach dem Benehmen vieler Wallfahrer fragt.

Von der Polizei heißt es unterdessen, die Kriminalität habe bisher 2022 in der gesamten Region Galicien und auch in Santiago um rund 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zugenommen. Ob das mit den steigenden Pilgerzahlen zu tun hat, wolle beziehungsweise könne man nicht sagen.



Der Massentourismus "wie in Venedig oder auf Mallorca" bringe die kleine Gemeinde mit 96 000 Einwohnern und der beschränkten Infrastruktur "an den Rand des Kollaps", schreibt die Zeitung El Mundo. Der traditionelle Handel wird von Souvenirläden, hippen Bars und Ketten verdrängt, wegen des Airbnb-Booms herrscht dramatischer Wohnungsmangel. Regionalmedien warnen, der Jakobsweg könne "am eigenen Erfolg zugrunde gehen". Jetzt hofft man bis März auf ruhigere Zeiten. "Doch wir alle zittern schon vor allem vor dem nächsten Sommer. Das wird die Hölle", sagt Architekt Juan Carlos. "Meine Eltern sind Rentner und haben Geld, sie können zum Glück weg. Sie wollen zur Erholung nach Ibiza. Dort soll es inzwischen sogar im Sommer ruhiger sein als hier."

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