"Das Einmaleins auf dem Trampolin"
ZISCHUP-INTERVIEW mit der Therapeutin Andrea Röhm über Lernstörungen und dem Rechnen mit den Zehen.
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Schüler, bei denen eine Lese-Rechtschreibstörung diagnostiziert wurde, lassen beim Schreiben Buchstaben oder ganze Silben aus, vertauschen optisch ähnliche Buchstaben und lesen nicht gerne. Zisch-Reporterin Christina El-Achkar, Schülerin der Klasse 8c der Freiburger Pestalozzi-Realschule, hat sich mit der Lerntherapeutin Andrea Röhm getroffen.
Röhm: Fehler zu machen, das gehört zum Lernen dazu und hat nichts mit gestört sein zu tun. Schüler, die trotz regelmäßigem Schulbesuch, trotz durchschnittlicher Begabung und ohne sonstige Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel im Sehen und Hören, oder durch Erkrankungen und familiäre Belastungen, anhaltend schlechte Leistungen in einem oder mehreren Fächern aufweisen, bei diesen Schülern könnte tatsächlich eine angeborene Störung die Ursache sein.
Zischup: Wie findet man so etwas heraus?
Röhm: Meist auf Empfehlung der Lehrer wenden sich Eltern an einen Kinder- und Jugendpsychologen. In mehreren Sitzungen werden Informationen zur familiären, schulischen und sozialen Situation gesammelt, ein Intelligenztest durchgeführt, der auch individuelle Stärken und Schwächen ermittelt, sowie Lese-, Rechtschreib- oder Rechentests ausgewertet – je nachdem, was untersucht werden soll. Hilfreich ist, dass auch Konzentration und Aufmerksamkeit während der Diagnostikphase beobachtet werden, die ebenfalls Lern- und Leistungsstörungen bedingen können.
Zischup: Ab wann spricht man dann von einer Störung?
Röhm: Meist sind die Schüler durchschnittlich, einige sogar überdurchschnittlich begabt, erzielten jedoch im Lese-, Rechtschreib- oder Rechentest auffällig unterdurchschnittliche Ergebnisse. Ab einem festgelegten Wert der Abweichung spricht man nicht mehr von einer Schwäche, sondern von einer Störung.
Zischup: Wie kann dem Schüler nun geholfen werden?
Röhm: Je nach Diagnose empfiehlt der Kinder- und Jugendpsychologe unterschiedliche Maßnahmen. Stehen beispielsweise die mangelnde Konzentration und Aufmerksamkeit im Vordergrund, nehmen die Kinder an einer Ergotherapie teil. Für andere ist Schule ein rotes Tuch, sie blockieren, klagen am Morgen über Kopf- und Bauchschmerzen, ziehen sich zurück oder sind frustriert. Hier kann eine Lerntherapie schulische Lücken aufarbeiten, den Kontakt zwischen Schüler, Lehrer, Eltern und Therapeuten verbessern, um gemeinsam das Selbstvertrauen und Wohl des Schülers zu stärken.
Zischup: Ist Lerntherapie wie Nachhilfe?
Röhm: Nein! Nachhilfe greift meist aktuelle schulische Inhalte auf, während die Lerntherapie das Anforderungsniveau zunächst senkt und sich dem Leistungsniveau des jeweiligen Schülers anpasst und auf dem aufbaut, was der Schüler bereits verstanden hat. Schrittweise werden Wissenslücken erklärt, die in der Vergangenheit noch nicht verstanden wurden. Neben dem Ziel, den Anschluss an die Klasse zurückzugewinnen, baut der Schüler wieder eine positive Haltung zum Lernen auf, traut sich mehr zu, ist motivierter und selbstsicherer.
Zischup: Wie lange dauert dann so eine Lerntherapie?
Röhm: Das hängt vom Schweregrad der Leistungsstörung ab, meist lernen wir ein Jahr zusammen, manchmal länger.
Zischup: So lange, das hört sich schrecklich an.
Röhm: Erstens treffen wir uns nur einmal in der Woche, für 45 oder 60 Minuten. Zweitens vergeht die Zeit schnell, da wir mit unterschiedlichen Methoden, Materialien und spielerisch lernen, was vielen sogar Spaß macht. Drittens erhält der Schüler konkrete Hilfe und Aufmerksamkeit, die er innerhalb der Klasse nicht einfordern kann, da ein Lehrer gleichzeitig auch alle anderen versorgen muss. Lernen kann Freude machen, und erste Erfolge wecken oft neue Motivation. Dennoch kostet es Überwindung und Arbeit, die auch belohnt wird.
Zischup: Die Schüler werden bestochen?
Röhm: Natürlich muss es eine Belohnung geben, wie zum Beispiel Stempel auf einer Punkteschlange, die dann gegen Geschenke aus der Schatzkiste eingetauscht werden. Für ältere Schüler ist aber viel belohnender, wenn sie ihre Fortschritte selber wahrnehmen.
Zischup: Werden die Schüler nicht ausgelacht, wenn sie in die Lerntherapie gehen?
Röhm: Die Förderung findet ja außerhalb der Schule statt und ist vertraulich. Welche Materialien wir verwenden, um zu verstehen, entscheidet jeder Schüler mit. Nicht selten nimmt ein Achtklässler anfangs Einerwürfel, Zehnerstäbe und Hunderterfelder in die Hand, um die schwierigen Zehner- oder Hunderterübergänge im Stellenwertsystem zu rechnen. In der Schule wäre das peinlich, dabei rechnen viele noch heimlich mit den Fingern. Wusstest du, dass man mit den Zehen rechnen kann?
Zischup: Nein, wie geht das denn?
Röhm: Indem man beim Einspluseins die Zehen zählend bewegt, weil es keiner sieht. Ich habe mir schon die tollsten Tricks erzählen lassen, wie Schüler sich irgendwie durchmogeln, um bloß nicht aufzufallen.
Zischup: Woher wissen Sie eigentlich, welche Hilfe ein Kind braucht?
Röhm: Auf Basis der aktuellen Testergebnisse wird für jeden Schüler ein Therapieplan erstellt.
Zischup: Was mögen Ihre Schüler am meisten?
Röhm: Puh, schwer zu sagen. Aber ich glaube, es ist der Hängestuhl im Arbeitszimmer, in dem sie mit einem Klemmbrett arbeiten und schreiben dürfen. Das Abschlussspiel und die Gummibärchen sind auch hoch im Kurs.
Zischup: Ich dachte immer, man solle ordentlich am Schreibtisch arbeiten?
Röhm: Grundsätzlich ja, wenn es auf die Schönschrift ankommt. Aber generell darf Lesen, Lernen und Schreiben gemütlich sein. Man kann übrigens wunderbar Vokabeln oder Einmaleins-Karten auf dem Trampolin automatisieren, da kommt das Gehirn in Schwung.
Zischup: Ist Lerntherapie eigentlich eine eigene Ausbildung?
Röhm: Lerntherapie ist ein eigener Studiengang an wenigen Universitäten. Meist absolvieren Pädagogen und Psychologen ein Aufbaustudium, andere besuchen Kurse oder bilden sich in einem Teilbereich weiter. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass Eltern genau prüfen, wie die Praxen inhaltlich arbeiten und ob die Therapeuten gut ausgebildet sind.
Zischup: Das ist aber schwer, wenn man davon keine Ahnung hat.
Röhm: Viele Lerntherapeuten arbeiten mit dem Jugendamt der Stadt Freiburg zusammen, welches Therapien genehmigt und finanziert, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind, wie zum Beispiel eine drohende seelische Behinderung. Die Vertragspartner des Jugendamtes wurden vorab geprüft und bewertet.
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