Integration in Flammen

STOCKHOLM. Rund um die schwedische Hauptstadt Stockholm sind in der Nacht zum Donnerstag wieder neue Unruhen ausgebrochen. Zahlreiche Fahrzeuge wurden in Brand gesetzt, Polizisten mit Steinen attackiert.  

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STOCKHOLM. Rund um die schwedische Hauptstadt Stockholm sind in der Nacht zum Donnerstag wieder neue Unruhen ausgebrochen. Zahlreiche Fahrzeuge wurden in Brand gesetzt, Polizisten mit Steinen attackiert.

Brennende Autos, zerschmetterte Auslagen, Glasscherben überall. Ein Restaurant, abgebrannt bis auf die Grundmauern, weil die Feuerwehr durch einen Steinhagel vermummter Jugendlicher am Löschen gehindert wurde. Eine Polizeistation in Flammen, drei verletzte Polizisten. Das sind Bilder, wie man sie aus Paris, London oder Athen kennt, aber nicht aus Stockholm. Und doch kommt die schwedische Hauptstadt nicht zur Ruhe, seit die Krawalle am Sonntag im Vorstadtghetto Husby ausbrachen. Seither haben sie auf andere Betonsiedlungen übergegriffen, in denen hauptsächlich Zuwanderer und deren Kinder leben, und wo Arbeitslosigkeit und soziale Probleme viele härter treffen als in anderen Teilen Stockholms.

Es gibt auch andere Bilder aus Husby. Am Mittwochabend versammelten sich rund 300 Einwohner zu einer Kundgebung gegen Gewalt. "Steine sind keine Antwort", rief Berekti Ahma, die in Äthiopien geboren ist, aber seit 17 Jahren hier wohnt. Wütend ist sie auf die, die ihren Vorort verwüsten, aber auch auf die, die "uns hier im Stich lassen" – auf jene, die Post, Bank und Gesundheitsklinik geschlossen haben. Auch eine Schule, die Zahnarztambulanz, die Hebammenzentrale: alles weggespart und in benachbarte Stadtteile verlagert. "Seht uns als Menschen, nicht als Einwanderer", fleht Ahma, "gebt unserer Jugend eine Chance!"

Doch in Husby geht jeder Fünfte der 15- bis 19-Jährigen weder zur Schule noch zur Arbeit. Die, die noch Zukunftsträume haben, fürchten jetzt die Folgen der Krawalle. "Wenn ich sage, dass ich aus Husby komme, glauben die Leute, ich bin ein schlechter Kerl", sagte der 14-jährige Naramsin Akdemir der Zeitung Dagens Nyheter. Doch er versteht auch seine Kumpel, die zu Steinen greifen: "Sie suchen Aufmerksamkeit, sie wollen zeigen, wie sie leben. Aber jetzt, mit all den Bränden, das geht zu weit."

Die Arbeitslosigkeit in Husby ist dreimal so hoch wie im übrigen Stockholm, das Durchschnittseinkommen um 40 Prozent niedriger. In Rinkeby, Hagsätra, Fittja und all den anderen Problemvororten ist das Bild nicht anders. Von einem "gigantischen Versagen" spricht Lena Mellin, die führende Kommentatorin in Schwedens auflagenstärkster Zeitung Aftonbladet. Es geht um Ghettoisierung: 85 Prozent der Menschen in Husby sind entweder außerhalb Schwedens geboren oder haben zwei ausländische Eltern.

Zuwanderer landen in tristen Wohnsiedlungen

Es geht um Jobs. Arbeit ist der wichtigste Integrationsfaktor; wer arbeitet, erwirbt die Sprache, ein Netzwerk, ein Einkommen. Doch nur vier von zehn in Husby sind erwerbstätig, gegenüber 65 Prozent im Landesdurchschnitt. Es geht um die Schulen, die der Herausforderung durch Fremdsprachige nicht Herr werden. Die schwedische Integrationspolitik steht in Flammen wie die Autos, die in der Nacht auf Donnerstag in 15 Vorstädten brannten. Seit Jahrzehnten hat das Land eine liberale Zuwanderungspolitik. Die Asylregeln sind humaner als anderswo, die Grenzen für die, die arbeiten wollen, offen. Die Stadt Södertälje allein nahm im Irak-Krieg mehr Flüchtlinge auf als die USA, kein EU-Land ist großzügiger bei der Asylerteilung. Doch alle Versuche, die Zuwanderer auf das ganze Land zu verteilen, scheitern am Widerstand der Kommunen, die neuen Einwohner klumpen sich in den tristen Wohnvierteln rund um die Großstädte zusammen, und die Integration misslingt trotz ambitiöser Sprach- und Schulungsprogramme.

"Abhängigkeit von Sozialhilfe, Arbeitslosigkeit und unruhige Schulen prägen die segregierten Stadtteile. Das schafft ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, die ein ausgezeichneter Nährboden für Gewalt ist", schreibt Dagens Nyheter. Dass die bürgerliche Regierung alle, die Arbeit haben, mit Steuersenkungen belohnte, dafür aber die Sozialprogramme zusammenstrich, verstärkt das Auseinanderklaffen. Nirgends in Europa wuchs laut einem OECD-Bericht die Ungleichheit in den letzten Jahren stärker als in Schweden.

Da bedarf es nur eines Funkens, um einen Steppenbrand zu entfachen. In Husby war dies ein Polizeieinsatz, bei dem ein 69-Jähriger, der mit einer Machete fuchtelte, erschossen wurde. Die wenigsten kannten ihn, doch dass die Polizei in Kampfmontur anrückte, statt den psychisch Kranken zur Vernunft zu reden, war für viele ein Beweis für die übertriebene Gewalt, von der man meint, dass sie vor allem Dunkelhäutige treffe. Und als dann die Ordnungsmacht eine zunächst friedliche Demonstration nach ein paar Übergriffen von Störenfrieden mit Hunden und Schlagstöcken auseinander trieb, eskalierte das Geschehen.

Seither prägen Polizeisirenen, Brandgeruch und das Klirren von Glasscheiben die Nächte in den Stockholmer Vororten, und die Schweden fürchten, dass die Unruhen auch auf andere Städte übergreifen.

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