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Der Streetworker aus Sibirien

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Alexander Marker ist keiner, der wegschaut. Der Lahrer Sozialarbeiter weiß genau, wie er mit seinen Jugendlichen umgehen muss. Er kennt ihre Schwächen und ihre Treffpunkte: den Pavillon am Kanadaring, die Ecken hinter den Turnhallen, die nächtlichen Verstecke. Er scheut sich auch nicht, an den Jugendlichen zu riechen, um herauszufinden, ob sie getrunken oder geraucht haben. Drogendealern setzt er mit seinem Allrad-Antrieb-Quad hinterher. Eine Geschichte von einem, der auszog, um Vertrauen aufzubauen und Perspektiven aufzuzeigen.

Die Schülerin ist geblendet von der schrägstehenden Dezembersonne. Es ist zehn Uhr morgens. Sie hält die Hand tief vor die Augen, um zu sehen, woher die tiefe Baritonstimme kommt. "Wie sieht es denn hier aus?", fragt Alexander Marker, während er sich der Gruppe Jugendlicher nähert. Eben noch lümmelten die Teenager unter dem strahlend blauen Himmel auf der Bank des Pavillons am Kanadaring herum, bevor Markers Schatten auf sie fiel. Ihre Oberkörper richten sich ruckartig auf.

"Herr Alexander, das waren wir nicht", sagt die Schülerin von der Theodor-Heuss-Hauptschule. "Ist klar", sagt Marker, "räumt den Müll jetzt auf." Für eine Sekunde rührt sich niemand. Breitbeinig steht Marker vor ihnen, die Hände locker in den Hosentaschen. Seine Füße stecken in braunen Cowboystiefeln. Der schwarze knielange Ledermantel bläht sich im Wind. Er ist 1,90 Meter groß und hat Oberarme vom Durchmesser eines Frühstückstellers. Seine Lippen umspielt das Lächeln, das schon bei Bud Spencer nichts Gutes verhieß. Unwillig rutschen die Jugendlichen von der Bank und beginnen, die Coladosen, Chipstüten, Zigarettenschachteln und Kippenstummel einzusammeln. Alexander Marker grinst.

Der studierte Physiotherapeut und Volleyballtrainer ist 1998 mit seiner Familie von Sibirien nach Deutschland gezogen. Obwohl sein Abschluss wie bei vielen Spätaussiedlern nicht anerkannt wurde, fand er einen Job: Eine Frau vom Rotary Club erkannte, dass er ein Händchen für Jugendliche hat und empfahl ihn für die soziale Arbeit im Bürgerzentrum K 2. Die Einrichtung liegt mitten in dem Wohngebiet Kanadaring. Der Zuzug verlief nicht unproblematisch. "Die Stadt nahm damals zu viele Spätaussiedler gleichzeitig auf, ohne die entsprechenden sozialen Strukturen zur Verfügung zu stellen", sagt Marker. Noch im ersten Arbeitsjahr übernahm er die Leitung eines Sportprojekts und organisierte fortan Zeltlager, Streetballturniere, Armdrück-Wettbewerbe und Überlebenscamps.

Der Kies knirscht unter Markers Stiefeln, während er vom Pavillon zurück zu seinem Ford Transit läuft. Er setzt seine Runde an diesem Vormittag fort. Zweimal die Woche fährt er morgens die Straßen ab und hält Ausschau nach Schulschwänzern. Abends macht er dasselbe. In der Dunkelheit führt er jedoch immer eine riesige Taschenlampe mit sich – nicht nur, um besser zu sehen. Sicher ist sicher. "Am Anfang hatten wir richtige Probleme hier." Der Pavillon hat ihn schon viele Nerven gekostet. "Drogenabhängige, Alkoholiker, Spritzen auf dem Boden... und direkt daneben die Theodor-Heuss-Schule-Hauptschule." In den Pausen seien die Schüler oft über die Schutter gesprungen und so in Kontakt mit den falschen Leuten gekommen.

Einmal erwischte er einen Zwölfjährigen beim Kiffen mit älteren Jungs. "Ich brachte ihn zu seiner Mutter und bat sie um ein Gespräch." Sie lehnte ab. Als er das zweite Mal mit dem Sohn vor der Tür stand, rastete sie aus. Er solle sich nicht in die Familienangelegenheiten einmischen, schrie sie. Dann warf sie den Sozialarbeiter aus der Wohnung. "Zwei Jahre später kniete sie auf dem Boden meines Büros und weinte." Marker half ihr auf. "Wir besorgten ihrem Sohn einen Therapieplatz", erzählt er. Doch nach zwei Wochen brach der Junge die Entziehungskur ab. "Wenn ein Familienmitglied Probleme hat, ist das Russlanddeutschen häufig peinlich", sagt Marker. Die Scham und der Stolz seien meist stärker, als die Einsicht, sich helfen zu lassen. Deshalb liege ihm sehr viel daran, ein Vertrauensverhältnis zu den Eltern und zu den jüngeren Kindern aufzubauen. "Je früher ich sie abhole, desto besser das Verhältnis, desto größer die Chance, dass sie nicht auf die schiefe Bahn geraten."

Zu den Sportwochenenden und Ausflügen, die er anbietet, lade er deshalb oft auch die Eltern ein. "Wenn wir abends an der Feuerstelle sitzen, beginnen sie zu reden", sagt Marker. Da trete dann häufig auch eine Hilflosigkeit zu Tage, die ihn selbst überrasche. Häufig sei den Eltern gar nicht bewusst, welchen Druck sie auf die Kinder ausübten. "Gerade wenn der Vater sich eigentlich nur für die Schulnoten interessiert, ist es umso schöner für einen 15-Jährigen, ihn am nächsten Morgen auf dem Fußballplatz zu besiegen."

Seit eineinhalb Stunden ist Marker schon mit dem Wagen unterwegs. Immer wieder reckt er den Hals nach links und rechts. Den Gesprächsfaden verliert er dabei nicht. Auf der Höhe der Otto-Hahn-Realschule führt ein 14-Jähriger gerade eine Zigarette zum Mund. Marker reißt das Steuer herum, schneidet ihm den Weg ab und springt aus dem Auto. Dem Jugendlichen fällt vor Schreck fast die Kippe aus dem Mund. Marker: "Wie alt bist Du?" Schüler kleinlaut: "Sind Sie Herr Alexander?" Marker: "Du bist zu jung zum Rauchen. Ist die von Dir?" Er zeigt auf dem Boden, wo die rasch weggeworfene Zigarette einsam vor sich hinqualmt.

Erst zögert der Junge. Dann nickt er. Marker lässt sich den Schülerausweis zeigen. Er studiert ihn mit zusammengekniffenen Augen. Gedehnt spricht er den Namen des Jungen aus und sagt: "Ich merk’ mir jetzt Dein Gesicht, wenn ich Dich das nächste Mal mit ner Kippe sehe, gibt es Ärger, klar?" Marker lässt sich von dem Schüler die volle Zigarettenschachtel geben. "Wenn Du sie zurückhaben willst, kannst Du sie zusammen mit Deinen Eltern bei mir abholen", sagt er. Dann dreht er sich um und steigt wieder in seinen Wagen. Die Zigarettenschachtel landet auf dem Armaturenbrett. Ein Wurf aus dem Handgelenk. Markers Runde ist für heute zu Ende.

Nicht immer laufen Markers Begegnungen mit den Jugendlichen so harmlos ab. "Manchmal sind sie bewaffnet und tragen Messer, das muss ich dann noch ruhiger wirken als sonst", sagt er. Grundsätzlich gelte: Niemand darf hinter ihm stehen. "Wenn ich mit ihnen spreche, müssen sie für mich zu sehen sein."

"Ich mache dabei keine Unterschiede zwischen Einheimischen und Zugezogenen", sagt Marker. In der Regel seien die Jugendlichen jedoch friedlich. Obwohl er schon mehr als zehn Jahre dabei ist, kam seine 50 Zentimeter lange Maglite nur ein einziges Mal zum Einsatz. "Ein Jugendlicher aus Dortmund dachte, er könnte aggressiv werden." Die anderen Jugendlichen hätten ihn noch gewarnt und gesagt: "Sei still, Mann, das ist der Alex." Er hörte nicht auf seine Kumpels und holte aus. Marker knockte ihn mit einem gezielten Schlag auf die Stirn aus.

Mittlerweile bietet Marker auch Anti-Aggressions-Training an. "Wenn die Jugendlichen in der Pubertät sind, geht es um Rangordnung", sagt er. Beim Sport könnten sie sich miteinander messen, ohne jemandem zu schaden. Seine Augen glitzern spitzbübisch. "Auch mich wollten sie schon öfter besiegen – beim Armdrücken." Sein Körper bebt vor Lachen. In Russland war er Armdrückmeister in der Amateurliga. Freitagabend. In Markers Wagen ist es warm, während draußen auf dem Rathausplatz der Atem der Jugendlichen kleine Wolken bildet. Der Sozialarbeiter steigt aus und nähert sich der Gruppe – mit der Taschenlampe in der Hand. Misstrauisch beäugen ihn die Jugendlichen. "Na, wie geht’s?", begrüßt Marker die Gruppe. Unbestimmtes Gemurmel. "Hast Du gerade eine geraucht?", fragt er einen der Jungs. "Nein", ertönt es trotzig. Marker: "Dann macht es Dir ja sicher nichts aus, wenn ich das mal nachprüfe." Markers Augen glitzern schon wieder amüsiert. Er riecht an den Fingern des Jugendlichen. "Tatsächlich, Du hast Recht", sagt Marker lachend und schlägt dem Jungen mit seiner Pranke freundschaftlich in den Nacken. Der zuckt zusammen.

"Jungs", sagt Marker grinsend, während er sich die Hände reibt,"wie sieht’s aus, ich veranstalte im Januar ein Sportwochenende mit Übernachten in der Ortenauhalle. Wer hat Lust vorbei zu kommen?" Stille. "Sind da auch Frauen?", fragt einer. Die Runde bricht in Lachen aus. Marker: "Wenn Du Sport machst, steigt die Chance."

"Manchmal sind sie bewaffnet und tragen Messer, da
muss ich dann noch ruhiger als sonst wirken."

Alexander Marker
In Markers Büro im Bürgerzentrum ticken neun verschiedene Schwarzwalduhren. Der Sozialarbeiter hat sie alle selbst repariert. "Je mehr die Mechanik spinnt, desto größer die Herausforderung", sagt er. Nicht nur Uhren bekommen eine zweite Chance bei ihm – auch Jugendliche. Auf dem Schreibtisch steht die kaputte Weihnachtsmühle einer älteren Dame. Der Sozialarbeiter mit dem 130-Kilogramm-Händedruck tippt sacht gegen die Flügel der Mühle. Sie dreht sich eiernd und gerät schließlich ins Stocken. Er sagt: "Du darfst nie den Glauben an junge Menschen verlieren, auch nicht wenn die Familie sie schon aufgegeben hat." Eine Woche später: Durch die Gänge des Bürgerzentrums rennen weißgekleidete Kinder mit Flügeln. In der Rechten balanciert Marker eine Teetasse durch den Flur. Er schließt die Bürotür hinter sich. Das Engelsgeschrei dringt nur noch gedämpft herein.

Es ist still bis auf das Ticken der Uhren. Während er die Kerzen der Weihnachtsmühle mit einem Feuerzeug anzündet, sagt Marker: "Wenn ich nach Sibirien zurückgehe, schreibe ich ein Buch über alles, was ich hier erlebt habe." Er stupst die Weihnachtsmühle an.Langsam dreht sie sich – ohne zu stocken.

Ressort: Neues für Schüler

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