Beispiel Freiburg
Mobbing an Schulen: So grausam können Kinder sein
Wenn Schüler einen Mitschüler über einen längeren Zeitraum schikanieren, spricht man von Mobbing. Wohin das führen kann, zeigt der Fall des 15-jährigen Gymnasiasten Lukas M. aus Freiburg.
Mi, 25. Nov 2015, 14:44 Uhr
Freiburg
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"Die Motive, jemanden zu mobben, sind sehr unterschiedlich", sagt der Schulpsychologe Andreas Sieburg von der schulpsychologischen Beratungsstelle des staatlichen Schulamts Freiburg, und mitunter eben auch nebulös. Es können die schiere Lust am Quälen oder der Wunsch nach Prestigegewinn in der Gruppe sein. Oder Frusterlebnisse, die ein Ventil brauchen. Oder ganz banale Dinge, Langeweile oder die Suche nach Zerstreuung.
Gehäuft kommt Mobbing in der Pubertät vor. "Das ist eine sehr sensible Phase mit vielen Veränderungen", weiß Silke Hewelt. Der Jugendliche versucht, seine Rolle und Position in der Gemeinschaft zu finden, beliebig aussuchen kann er sie sich nicht – Schule ist eine Art Zwangsgemeinschaft.
Bei Lukas fing es mit Kleinigkeiten an: mit abfälligen Bemerkungen. Oft ist es so, dass Mobbing vermeintlich harmlos beginnt, ohne Gewalt, mit Lästereien, Sticheleien, falschen Gerüchten, die in die Welt gesetzt werden, um jemanden zu diskreditieren. Es betrifft alle Schularten und Schüler aller sozialen und in allen Bildungsschichten, Jungen genauso wie Mädchen, sagen Experten.
Natürlich, weiß Sieburg, sind oft die Schwächeren – diejenigen, die sich nicht gut wehren können – leichtere Zielscheiben. "Aber letztendlich kann jeder Opfer werden, egal ob er dick oder dünn, klug oder dumm ist." Oft sei es schwierig zu sagen, das Opfer habe keinen Anteil daran. Es gebe auch Kinder, die früher Opfer waren und dann Täter wurden – und umgekehrt. Jeder gehört irgendwann einmal nicht zum Mainstream, sagt Psychologe Sieburg, der Schüler, Eltern, Lehrer und Schulleiter berät. Experimente in der Psychologie zeigen, wie schnell jeder auf beiden Seiten die Rollen einnehmen kann; da brauche es gar keine besonderen Charakterzüge. Der 38-jährige Psychologe probiert das bei Lehrerfortbildungen gern in Rollenspielen aus: "Es ist überhaupt nicht schwer, eine mobbingähnliche Situation herzustellen", sagt Sieburg. "Da reichen wenige Minuten, um eine Dynamik zu provozieren, die auch im Rollenspiel von Unterlegenen selten als angenehm erlebt wird."
Da Mitschüler Angst haben, selbst in den Fokus der Mobbenden zu geraten, sei es wichtig, dass sich Erwachsene einklinken, erklärt Psychologe Sieburg. Aber nicht allen Lehrern fällt eine Mobbingsituation in der Klasse auf, eben weil sich vieles nicht vor den Augen anderer abspielt. Lukas’ Lehrerin wurde die schwierige Lage jedoch bewusst, sie holte sich Hilfe bei Schulpsychologin Hewelt.
Einen Fall mit einem Mobbingopfer und einer ganzen Täter-Gruppe zu klären, ist nicht einfach. Oft steht wie in Lukas’ Fall die Aussage des Einzelnen gegen die Aussagen mehrerer. "Man muss dem Betroffenen auf jeden Fall Glauben schenken", sagt Hewelt. Fatal wäre, zu sagen, etwas könne gar nicht passiert sein. Wichtig sei, mit allen Beteiligten zu sprechen, und zwar einzeln. Dabei müsse man zunächst neutral bleiben und versuchen zu vermitteln. Oft ist gar nicht einfach herauszufinden, was wirklich passiert ist. Und nicht immer entsprechen die geschilderten Darstellungen der Wahrheit. "Es ist natürlich leichter, wenn man klare Aussagen und Zeugen hat", weiß Silke Hewelt. Wenn die Fakten eindeutig sind, müsse man sie öffentlich machen, sagt die Psychologin: "Aber natürlich nur, wenn der Betroffene zustimmt."
Silke Hewelt ist im Regierungspräsidium (RP) für die Prävention zuständig; 30 Präventionsbeauftragte zählt das RP. Prävention bedeutet, für Schutzmechanismen zu sorgen, damit etwas gar nicht erst vorkommt. Aber eine Ritterrüstung, wie sie sich Eltern für ihr Kind wünschen, gibt es nicht. "Jemanden zu einer Kämpfernatur zu machen, ist nicht so einfach", sagt Andreas Sieburg. Wichtig sei, dass sich die Schüler in einer neuen Klassen kennenlernen und gleich am Anfang gemeinsame Regeln im Umgang miteinander entwickeln und aufstellen – auch, was den Umgangston betrifft, erklärt Hewelt. Dazu gehört eine Kultur der Streitschlichtung, aber auch, klar zu machen, was passiert, wenn sich jemand nicht an diese Regeln hält.
Komme es dennoch zu Mobbing, muss man gegenüber den Tätern, sobald eindeutige Erkenntnisse vorliegen, konsequent auftreten, ihnen klar machen: "So nicht!", sagt Hewelt. Und man müsse sie dazu bringen, sich zu entschuldigen, und Wiedergutmachung einfordern. Ans Gewissen zu appellieren, reiche da oft nicht, glaubt Schulpsychologe Andreas Sieburg. Man könne aber auch versuchen, den Tätern nicht nur einen Riegel vorzuschieben, sondern sie auch mit einzubeziehen, ihnen alternative Rollen anzubieten, über die sie sich positiv definieren können, "allerdings nicht mehr auf Kosten anderer". Ein zweischneidiges Schwert sind laut Sieburg Sanktionen: Wenn Schüler sich fortwährend über schulische Regeln hinwegsetzen, können sie auch erwogen werden, allerdings muss ein differenziertes Vorgehen abgewogen werden.
Der 15-jährige Lukas M. wollte am Ende von sich aus die Schule verlassen. Immerhin, sagt die Psychologin und Pädagogin Silke Hewelt, sei er mit dem Gefühl gegangen, es habe sich für ihn etwas bewegt, verändert, verbessert. Bedenklicher wäre es gewesen, die Schule zu wechseln, ohne Aufmerksamkeit für seine Lage erfahren zu haben.
Eine große Rolle spielen heutzutage natürlich Smartphones, soziale Medien und generell das Internet, im Positiven (zum Beispiel bei Hilfsinitiativen) wie im Negativen. Ein Teil des Lebens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen spielt sich in virtuellen Räumen ab. Deshalb ist der richtige Umgang damit – wie der Jugendliche das Internet nutzt, was er dort von sich in Text und Bild preisgibt – umso wichtiger. Der preisgekrönte Fernsehfilm "Homevideo" (2011), den das Freiburger Theater Radix unlängst auf die Bühne gebracht hat (die BZ berichtete), ist ein eindrückliches Beispiel dafür: Ein Junge filmt sich beim Onanieren, das Video gerät durch einen dummen Zufall in die Hände von Mitschülern und landet auf den Smartphones der halben Schule. Der weitere Verlauf ist verheerend. Die Botschaft: Das Internet merkt sich alles. Experte Andreas Sieburg von der schulpsychologischen Beratungsstelle des staatlichen Schulamts Freiburg glaubt aber auch, dass die Flut an Informationen und Angeboten dafür sorgt, dass das Internet zwar nicht vergisst, aber Dinge – so schrecklich sie für die einzelnen Betroffenen sind – auch wieder verblassen lässt. "Die ganz große Dramatik, der Stempel ‘gebrandmarkt fürs Leben’, ist es in den meisten Fällen zum Glück nicht", sagt Sieburg.
- Download auf klicksafe.de: Ratgeber Cyber-Mobbing
- Präventionskonzept Baden-Württemberg: "Stark. Sträer. Wir."
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