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Die Kinder der Raketenforscher

Max Schuler
  • Fr, 30. September 2016
    Denzlingen

     

In Denzlingen wohnten Wissenschaftler, die im Nationalsozialismus Raketen gebaut haben / Nachfahren waren jetzt zu Gast.

Foto: Harold_Siegman
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DENZLINGEN. Ihre Väter forschten gemeinsam an Raketen für die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Sie sollen mit Wernher von Braun in Peenemünde zusammengearbeitet haben, wo unter anderem die V2-Rakete entwickelt wurde, Hitlers vermeintliche Wunderwaffe, die den Endsieg bringen sollte – bekanntlich kam es anders. Nach der Niederlage mussten die Wissenschaftler mit ihren Familien nach Frankreich übersiedeln – dazwischen lebten einige von ihnen für längere Zeit in Denzlingen, wie bei einem Treffen der Kinder jetzt zu erfahren war.

Als der Denzlinger Ortshistoriker Dieter Ohmberger von der Geschichte über die Raketenforscher hörte, machte er sich an die Recherche im Gemeindearchiv – und wurde fündig. Am 20. August 1946 habe die französische Militärregierung in Denzlingen zur Unterbringung eines sogenannten "technischen Kommandos" 19 Wohnungen beschlagnahmt. "Die Denzlinger wussten nicht, dass es sich um ehemalige Ingenieure der Raketenforschungsstelle handelte", sagt Ohmberger.

Die Physiker, Mathematiker und Techniker aus Norddeutschland sollten ihr Wissen für den Bau von französischen Raketen einbringen. "Für die deutschen Techniker war das Arbeiten bei den Franzosen scheinbar wesentlich interessanter, weil mit mehr Freiheiten verbunden als bei den Engländern", sagt Ohmberger. Ein Helmut Weiß, der Familie in Emmendingen hatte und in Peenemünde gearbeitet haben soll, organisierte laut Ohmberger diese Umsiedlung in den Süden.

Steuerungstechniker seien in Denzlingen, Triebwerkstechniker in Riegel untergebracht gewesen. Ein Forschungsbüro gab es laut dem Heimatkundler in Emmendingen. Später bauten die Franzosen in Vernon bei Paris ein Raketenforschungszentrum für Luft- und Raumfahrt. Die rund 70 deutschen Wissenschaftler waren dort ab 1947 im sogenannten "Buschdorf" untergebracht – einer abseits gelegenen Siedlung im Wald. Dort mussten sie für die einstigen Feinde forschen. "Die Frauen und Kinder – einige davon sind in Denzlingen geboren und getauft – folgten bis 1949 nach", sagt Ohmberger.

"Vernon ist immer unser Anknüpfungspunkt gewesen", sagt Rüdiger Dollhopf, der ehemalige Geschäftsführer der Rhodia in Freiburg. In Vernon ist er zusammen mit den anderen deutschen Kindern aufgewachsen, hat mit ihnen im Wald gespielt und Französisch gelernt – das verbinde sie bis heute.

"Der Denzlinger Kirchturm hat auch etwas
Raketenhaftes an sich."
Dieter Ohmberger
Seit 2008 organisiert Dollhopf gemeinsame Treffen und wandelt auf den Spuren der Vergangenheit. "Viele sind in Frankreich geblieben, knapp 60 Prozent sind aber später zurück nach Deutschland gekommen", sagt Dollhopf über die Schicksale der Wissenschaftlerfamilien. Mehrmals machte die Gruppe bereits einen Ausflug nach Riegel am Kaiserstuhl und jüngst waren sie zum ersten Mal in Denzlingen zu Gast. Bürgermeister Markus Hollemann begrüßte die Nachfahren der Wissenschaftler im Rathaus.

Ohmberger führte die Gruppe zur evangelischen Kirche, dessen Turm aus seiner Sicht auch etwas "Raketenhaftes an sich habe". Die Schwester von Horst Deuker ist in der Kirche getauft. "Meine Idee, Pastor zu werden, ist in der Kirche in Denzlingen entstanden", ist sich Deuker sicher. Während er auf einer der Kirchenbänke Platz nimmt, erzählt er von seinem Vater, Ernst August Deuker, der bei den Nationalsozialisten mit dem Projekt Wasserfall betraut gewesen war. Die Flakkanonen der Wehrmacht konnten nur einen Flieger ins Visier nehmen. Deuker sollte eine Flugabwehrrakete entwickeln, die in das Geschwader gefeuert, dort wie eine Splitterbombe explodieren und so größeren Schaden anrichten sollte. Etliche Testflüge seien dokumentiert. Später habe sein Vater für die Franzosen an Trägerraketen für Transporte in die Erdumlaufbahn gearbeitet. Heute lebt der Pastor in Südfrankreich. Er kann sich erinnern, in Denzlingen die Schule besucht zu haben. Auch ein Hochwasser an der Glotter könne er nicht vergessen.

Manche Bekanntschaften von damals halten bis heute an. So umarmen sich der Denzlinger Hans-Jörg Siegel und Dagmar Levsen, geborene Lämmerhirt. Sie hatte bei seiner Familie unter dem Dach gewohnt mit Kuckucksuhr an der Wand und Blick zum Kandel. Levsen kann sich noch erinnern, wie ihre Mutter nach Westen zeigte und zu ihr sagte: "Schau, da ist Frankreich, da gibt es Schokolade". Was Schokolade ist, wusste das kleine Mädchen zu dem Zeitpunkt noch nicht, doch für die kommenden 16 Jahre sollte das fremde Land ihr neues Zuhause werden.

Ressort: Denzlingen

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 30. September 2016: PDF-Version herunterladen

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